Der Einfluss von sozialen Kipp-Punkten auf das Energiesystem

Christoph Dolna-Gruber von der Österreichischen Energieagentur analysiert, wo soziale Kipp-Punkte im Energiesystem bereits überschritten sind. Von der Photovoltaikanlage bis zu Elektroautos. Und er beschreibt Maßnahmen, die politische Gestalter:innen, Unternehmen und Gemeinden ergreifen könnten, um diesen Wandel zu unterstützen.

Unser Energiesystem durchläuft einen tiefgreifenden Wandel, der nicht nur von technologischen Fortschritten, sondern auch von sozialen Dynamiken geprägt ist. Soziale Kipp-Punkte spielen eine entscheidende Rolle in diesem Prozess, zum Beispiel, wenn es um die Marktdurchdringung von Elektroautos und Photovoltaikanlagen, aber auch die Akzeptanz des Ausbaus von Stromnetzen und Windkraftanlagen geht.

Photovoltaikanlagen als Vorbild

Photovoltaik-Anlagen gewinnen weltweit an Bedeutung, und ihr Markterfolg hängt nicht nur von technologischen Fortschritten und staatlichen Anreizen ab, sondern auch von sozialen Faktoren. Eine Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zeigt, dass Photovoltaikanlagen ansteckend sind - aber im positiven Sinne.

Die Studie legt nahe, dass die Installation von Photovoltaikanlagen in einer Nachbarschaft dazu führen kann, dass immer mehr Menschen sich für Solarenergie entscheiden. Dies liegt zum Teil daran, dass die Sichtbarkeit von Solarmodulen andere dazu ermutigt, ebenfalls auf erneuerbare Energien umzusteigen. Die Nähe zu anderen PV-Anlagen ist der Studie nach ein relevanterer Entscheidungsfaktor als z.B. der Bildungsstand, das Einkommen oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Und es scheint, als wäre dieser Kipp-Punkt bei Photovoltaik-Anlagen in Österreich bereits überschritten: Finale Zahlen für den Ausbau an PV-Leistung für 2023 liegen noch nicht vor, aber eines ist sicher: Der Ausbau ist mindestens doppelt so hoch wie 2022, und dieser wiederum war bereits ein Drittel höher als 2021. Heute sind Balkon-PV-Kraftwerke samt Batteriespeichern bei Diskontern erhältlich, und die Eigenerzeugung mit Sonnenstrom ist zum „Mainstream“ geworden.

Das merkt man auch im Stromnetz: Am Sonntag, 28. April 2024 wurde so viel Photovoltaik-Strom In das österreichische Stromnetz eingespeist, dass der Netzbezug (Last) von 12:30 bis 14:30 vollständig mit Sonnenstrom gedeckt wurde. Ein Wert, der bisher noch nie vorgekommen ist, in Zukunft aber häufiger zu sehen sein wird. Speicherung und Flexibilisierung sowie die Modernisierung von Stromnetzen werden wichtiger.

Elektroautos auf dem Vormarsch

Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) zeigt, dass auch die Verbreitung von Elektroautos stark von sozialen Dynamiken abhängt. Soziale Kipp-Punkte können den Übergang zu Elektrofahrzeugen beschleunigen oder bremsen – die Unternehmensberater:innen sehen einen Kipp-Punkt bei 15 Prozent Anteilen an den Neuzulassungen. Viele Länder weltweit sind schon deutlich über diese Marke, so auch Österreich: Hier lag der Anteil von reinen E-Autos an den Pkw-Neuzulassungen 2023 bei 20 Prozent. Generell zeigt sich bei der Einführung von neuen Technologien ein typischer Verlauf: Erst ein „Spielzeug“ für Wohlhabende oder Tech-Pioniere, bei hohen Preisen. Dann finden neue Technologien den Einzug in Unternehmen, die – im Fall von Elektroautos – ihre Flotten umstellen. An diesem Punkt befinden wir uns gerade in Österreich: Etwa 75 bis 80 Prozent der Elektroauto-Neuzulassungen laufen auf Firmen. Mit zunehmender Durchdringung sinkt auch der Stückpreis und Elektroautos werden vom Massenmarkt angenommen. Preise für Neuwägen um die 25.000 Euro weisen bereits in diese Richtung, mit sinkender Tendenz in den kommenden Jahren.

Dabei beeinflussen verschiedene Faktoren die Marktdurchdringung von Elektroautos. Dazu gehören:

  1. Soziale Netzwerke: Die Akzeptanz von Elektroautos verbreitet sich oft über soziale Netzwerke. Wenn Personen in einem sozialen Netzwerk Elektroautos besitzen oder positiv darüber sprechen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass andere Mitglieder des Netzwerks ebenfalls auf Elektroautos umsteigen.
     
  2. Sichtbarkeit und Zugänglichkeit: Die Sichtbarkeit von Elektroautos in der Öffentlichkeit und deren Zugänglichkeit durch Lademöglichkeiten beeinflussen die Einstellung der Menschen zu dieser Technologie. Eine gut ausgebaute Ladeinfrastruktur und öffentliche Förderprogramme können soziale Kipppunkte begünstigen.
     
  3. Kosten und Nutzen: Sinkende Kosten für Elektroautos und Verbesserungen ihrer Leistung können soziale Kipppunkte auslösen, insbesondere wenn die Betriebskosten im Vergleich zu herkömmlichen Fahrzeugen niedriger sind.

Die Macht der sozialen Dynamik nutzen

Die Erkenntnisse aus diesen Studien zeigen, dass soziale Kipp-Punkte entscheidend sind, um den Übergang zu einer nachhaltigeren Energiezukunft zu beschleunigen. Politische Gestalter:innen, Unternehmen und Gemeinden können diese Erkenntnisse nutzen, um den Wandel zu unterstützen.

Dazu gehören Maßnahmen wie:

  • Förderung von Netzwerken und Gemeinschaften: Gemeinschaften und soziale Netzwerke können dazu beitragen, die Akzeptanz und Verbreitung von zum Beispiel Elektroautos – aber auch anderen zukunftsfähigen Formen der Mobilität - und Erzeugungsanlagen sowie Stromnetzen zu fördern. Programme zur Förderung von Nachbarschaftsinitiativen und Informationskampagnen können soziale Kipp-Punkte verstärken, indem sie „Taten für die Energiewende“ sichtbar machen und vorzeigen, dass Lösungen funktioniere und keine Nischenprogramme sind.
     
  • Investitionen in Infrastruktur: Der Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos und Stromnetzen sowie Investitionen in Digitalisierung können soziale Kipp-Punkte schaffen, indem sie die Nutzung dieser Technologien erleichtern und sichtbarer machen.
     
  • Finanzielle Anreize: Finanzielle Anreize wie Steuervergünstigungen, Subventionen und Förderprogramme können den Umstieg auf Elektroautos und Photovoltaikanlagen attraktiver machen und soziale Kipp-Punkte unterstützen.
Veröffentlicht am 06.05.2024